Die WHO schätzt, dass jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung erleidet. Für viele von uns ist es daher keine Frage des „Ob„, sondern des „Wann“ und wie wir damit umgehen. Dies betrifft auch das Arbeitsumfeld.
Dieser Artikel ist zuerst als Gastbeitrag von Dr. Thomas Reinbacher bei Persoblogger am 01.06.2024 erschienen.
Es ist kurz vor zwölf
Eine Studie des McKinsey Health Institute (MHI) zeigt, dass ein Drittel aller Beschäftigten in Deutschland (37%) über körperliche und geistige Erschöpfung klagt. Nur die Hälfte (51%) fühlt sich wirklich gesund.
Die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden umfasst mehr als nur das Fehlen von Erkrankungen. Unternehmen und Führungskräfte spielen eine entscheidende Rolle dabei, ein Umfeld zu schaffen, in dem psychische Gesundheit genauso wichtig ist wie körperliche Gesundheit.
Psychische Gesundheit ist Pflichtprogramm und keine Kür
Psychische Erkrankungen sind ein ernstzunehmendes Thema, das Unternehmen nicht ignorieren können. Hier sind einige wichtige Gründe aus dem Techniker Gesundheitsreport 2020 und AXA Mind Health Report 2024 für alle, die daran zweifeln:
- Aktuell sind 32% der Menschen von einer psychischen Erkrankung betroffen.
- Psychische Erkrankungen sind der Hauptgrund für Krankheitstage in Deutschland.
- Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen sind seit 2000 um 146% gestiegen.
- 75% der Menschen geben an, dass ihre Arbeit ihre psychische Gesundheit beeinflusst.
- 23% haben sich wegen mentaler Herausforderungen krankgemeldet.
Diese Zahlen verdeutlichen, warum Unternehmen, die sich nicht um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern, auf einer tickenden Zeitbombe sitzen.
Erster Aktionsplan zur Entstigmatisierung in Ihrem Unternehmen
Schritt 1: Akzeptanz schaffen
Psychische Gesundheit muss ein akzeptiertes und besprochenes Thema im Unternehmen sein. Dazu müssen Fakten geschaffen und Wissen aufgebaut werden.
Führungskräfte und People-Manager sollten die häufigsten psychischen Erkrankungen wie
- Sucht
- Angststörungen
- Depressionen
und deren typische Symptome kennen. Dies erfordert kein Psychologiestudium, ist aber für die Sensibilisierung absolut notwendig. Kurze Schulungen durch Psychologen oder durch strukturierte, self-learning Angebote wie der MHFA Ersthelfer Kurs (Mental Health First Aid) in Deutschland oder den „Erste Hilfe für die Seele“-Kurs in Österreich können.
Schritt 2: Austausch fördern
Unternehmen sollten den Austausch mit Betroffenen fördern, beispielsweise durch interne Mental Health Champions, die über ihre eigenen Krisen sprechen, oder durch externe Speaker, die das Eis brechen können. Dies schafft Vertrauen und zeigt, dass psychische Erkrankungen im Unternehmen kein Tabu sind.
Schritt 3: Ansprechpartner benennen
Klare Handlungs- und Support-Möglichkeiten sollten aufgezeigt werden, sowohl intern durch Mental Health First Aiders als auch durch externe Dienstleister wie Employee Assistance Program Anbieter. Externe Ansprechpartner sind wichtig, da viele Mitarbeitende ihre seelischen Probleme nicht mit jemandem im gleichen Unternehmen oder in der eigenen Reporting Line besprechen möchten.
Die internen Ansprechpartner sind keinesfalls da um seelische Probleme zu lösen, aber sie können mit Betroffenen ein Erstgespräch, z.B. nach dem Roger-Prinzip (siehe unten) führen.
Schritt 4: Flexible Wiedereingliederungsmodelle
Der Standardansatz zur betrieblichen Wiedereingliederung, d.h. die schrittweise Erhöhung der Arbeitsstunden, funktioniert oft nicht bei psychischen Erkrankungen. Der Grund dafür ist, dass der empfundene Stress im Job meist nicht mit der Arbeitszeit, sondern mit dem Umfang und Komplexität der Aufgabe skaliert.
Flexiblere Arbeitsmodelle und die Möglichkeit, die Abteilung zu wechseln, können hier helfen. Schließlich endet die Verantwortung des Arbeitgebers dort, wo professionelle medizinische Hilfe beginnt, aber der Support und die Offenheit im Unternehmen sind entscheidend für die erfolgreiche Rückkehr ins Berufsleben.
Ein Framework um Erstgespräche zu führen
Das ROGER Prinzip ist eine hilfreiche Struktur für Erstgespräche mit Menschen, die psychisch belastet sind. Es ist auch das Grundprinzip welches im Mental Health First Aid-Program vermittelt wird.
Hier sind die fünf Schritte des ROGER Frameworks für mentale Gesundheit:
- Reagiere: Es ist wichtig, auf das Problem aufmerksam zu machen und die eigenen Sorgen über das Verhalten und den seelischen Zustand der betroffenen Person anzusprechen.
- Offen und unvoreingenommen zuhören und kommunizieren: Ein wesentlicher Bestandteil ist, der betroffenen Person aktiv und ohne Vorurteile zuzuhören. Dies schließt ein, mit einer wertfreien Haltung zu kommunizieren, um ein vertrauensvolles Gesprächsklima zu schaffen.
- Gib Unterstützung und Information: Unterstützen Sie die betroffene Person, indem Sie relevante Informationen zur Verfügung stellen und Unterstützung anbieten. Dies kann in Form von praktischen Tipps oder dem Teilen von (externen) Ressourcen geschehen.
- Ermutigen, professionelle Hilfe zu suchen: Es ist entscheidend, die Person zu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies könnte der Schritt sein, der den größten positiven Einfluss auf ihre Genesung hat.
- Reaktivieren von Ressourcen: Der betroffenen Person soll geholfen werden, ihre vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren. Dazu gehören nicht nur Unterstützer wie Familie und Freunde, sondern auch Selbsthilfestrategien wie der Besuch von Selbsthilfegruppen, sportliche Aktivitäten oder Entspannungstechniken.
Diese Schritte bieten eine strukturierte und einfühlsame Herangehensweise, um Menschen in psychischen Krisen effektiv zu unterstützen. Wirklich helfen können aber nur die Profis!
3 Self-Care Tipps für die eigene psychische Gesundheit
- Bauch schlägt Kopf: Wichtige Entscheidungen sollten nicht nur mit dem Verstand getroffen werden. Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl! – bezieht sich nicht auf Personaleinstellungsentscheidungen! (Anmerk. der Redaktion)
- Gesundheit = Körper + Seele: Ihr Wohlbefinden hängt von der Balance zwischen Körper und Geist ab. Nehmen Sie sich täglich Zeit für sich selbst, zum Beispiel für einen ruhigen Morgenspaziergang.
- Sich selbst nicht vergessen: In stressigen Zeiten ist es wichtig, Aktivitäten beizubehalten, die für den nötigen Ausgleich sorgen. Denken Sie daran, dass das Leben ein Marathon ist, kein Sprint.
Führungskräfte sollten ihrem eigenen psychischen Wohlbefinden Priorität einräumen. Sie sind wichtige Vorbilder für ihre Teams und müssen regelmäßig für ihren eigenen Ausgleich sorgen.
Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet und keine Schande
Jeder Mensch verdient Hilfe, ob bei einem gebrochenen Bein oder einer gebrochenen Seele. Depressionen sind weit verbreitet und keine Schande. Sie können effektiv behandelt werden, und eine psychische Erkrankung bedeutet nicht, dass man ein Leben lang psychisch krank sein wird. Wir müssen daher Menschen mit psychischen Erkrankungen die Hand ausstrecken und ihnen unsere Unterstützung anbieten.
Es ist wichtig, dass wir im Unternehmen ein Umfeld schaffen, in dem Betroffene sich sicher und verstanden fühlen. Jeder von uns kann einen Unterschied machen, indem wir Mitgefühl und Verständnis zeigen.
(M)ein Beispiel: Raketen-Karriere, Depression, Leben 2.0
Hallo, ich bin Thomas. Oder wie es auf LinkedIn steht: Dr. Thomas Reinbacher, ehemaliger NASA-Forscher und Manager bei McKinsey, Amazon und Google. Auf Instagram erfahren Sie, dass ich auch ein glücklicher Familienvater bin. Ein richtiges Happy-Ding-Dong-Leben – bis 2021 alles abrupt endet.
„Ja, meine Karriere war wirklich traumhaft, und auch in meinem Privatleben schien alles perfekt. Doch am 16. September 2021 änderte sich alles. Meine Frau schrieb diesen Tag später als ‚Totalausfall‘ in unseren Kalender. Damals wurde bei mir eine schwere Depression diagnostiziert. Zwei Monate zuvor hatte ich mir einen Gesundheitspodcast angehört, in dem ein Arzt die typischen Symptome einer Depression erklärte. Ich erkannte mich in diesen Symptomen wieder, wollte es aber nicht wahrhaben. Schließlich dachte ich, ich könnte doch keine Depression haben. Doch nur zwei Monate später war die Diagnose da, und mein Leben stand still.“
Nach zwei langen Jahren Kampf, zwei schweren depressiven Episoden und mehr als 200 Tagen in der Psychiatrie, nutze ich heute meine Erfahrungen als Manager und Betroffener, um Unternehmen zu helfen, das Thema psychische Gesundheit besser zu verstehen und zu integrieren.
Zu diesem Artikel gibt es auch eine Podcast-Episode »Depression - von der Turbokarriere ins Dunkel und zurück« mit Thomas.