Leseprobe »Er lügt!« aus Nach Grau kommt Himmelblau

Diese Leseprobe gibt es auch zum Anhören.

Selbsteinweisung in die geschlossene Station

Die Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Ich kann nicht mehr schlafen, dazu dieser Bewegungsdrang. Meine Gedanken werden schrecklich, düster und düsterer. Weitermachen hätte keinen Sinn, egal, wie ich es drehe und wende. Alles scheint aussichtslos. Ich bin am Ende meiner Kräfte, schon die erste Episode hat mich völlig erschöpft.

Wenn jetzt eine zweite Episode kommt, ist meine Depression dann schon chronisch? Wird sie dann immer wiederkommen? Wird es nie wieder gut werden? Wie weitermachen?

Suizid?

Über allem liegt eine bleischwere Hoffnungslosigkeit. All mein Denken ist schwarz. Es sind ganz fürchterliche Gedanken. Ich stelle mir zum ersten Mal in meinem Leben die Frage, ob es nicht besser wäre, nicht mehr zu leben. Dabei denke ich inzwischen nicht mehr nur über das Ob nach, sondern auch schon über das konkrete Wie.

Moment mal, das sind doch die ersten ganz konkreten Suizidgedanken!

Ja! Und ich kann sie nicht ausbremsen, umlenken, abschalten. Sie haben sich in meinem Kopf verselbstständigt und nichts hilft mir mehr, um mich davon abzulenken. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Fühle mich wie im Lied »Komplett im Arsch« von Feine Sahne Fischfilet.

Aus der Behandlung meiner ersten Episode ist mir eine Zahl im Kopf geblieben. Die Mehrheit der Menschen (90 %), die in Deutschland durch Suizid stirbt, hat an einer psychiatrischen Erkrankung gelitten – am häufigsten an einer Depression. Das sind Zahlen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

10–15 % aller Patienten mit einer schweren rezidivierenden Depression (also mit mehrmals auftretenden Episoden, so wie ich sie habe) sterben am Ende des Tages durch Suizid. Das ist ja jeder zehnte Patient! Da bist du baff.

Ich fühle mich vollkommen hilflos. Ich kann nicht mehr. Aber eines weiß ich, ganz gleich, wie schlecht es mir jetzt geht – Teil dieser Suizidstatistik will ich nicht sein. Mir ist klar, ich muss mich in die Klinik begeben, um meine Familie und mich zu schützen. Ich kann mich nicht mehr auf mich selbst verlassen. Ich bin ein Passagier der Depression. Wer weiß, was passiert, wenn es noch schlechter wird. Dann tue ich mir vielleicht noch etwas an.

Er lügt!

Ein paar wenige Tage kämpfe ich noch zu Hause weiter. Schwerste Suizidgedanken begleiten mich. Möchte nicht einsehen, dass die Depression zurück ist. Aber es geht nicht mehr. Schließlich machen Xiaoxi und ich uns wieder auf den Weg in die Nußbaumstraße 7. Notaufnahme der Psychiatrie, das zweite Mal. Diesmal fahren wir U-Bahn. Ich bin nicht mehr in der Lage, eine Auto- oder Fahrradfahrt zu bewältigen.

Während der ganzen U-Bahnfahrt rede ich immer wieder lautstark auf Xiaoxi ein. Es ist mir egal, was die anderen Fahrgäste neben uns denken. Sie darf unter keinen Umständen von meinen Suizidgedanken erzählen! Ich dränge sie dazu, dass wir in diesem Punkt lügen, denn ich will auf keinen Fall auf die geschlossene Station. Ein Überwachungszimmer, das man nicht verlassen darf, kein Besuch, das ist ein Albtraum. Durch meinen ersten Klinikaufenthalt ist mir der Unterschied zwischen geschlossener und offener Station natürlich bewusst. Die Voraussetzung für eine offene Station ist, dass man keine Suizidgedanken hat.

Sage ich es nicht selbst und sie bleibt neben mir stumm, dann fahren wir wieder nach Hause – weil auf der offenen Station so schnell sicher kein Platz frei ist. Aber ohne professionelle tägliche Begleitung allein zu Hause zu sein, ist unter diesen Umständen ein großes Risiko. Was, wenn doch etwas passiert?

Man kann sich das sein Leben lang nicht verzeihen. Wir beide befinden uns in einer absoluten Ausnahmesituation. Ich verlange, dass Xiaoxi schweigt, dass sie gar nichts sagt.

Diesmal erübrigt sich die Frage am Empfang, ob wir nicht doch erst zum Hausarzt gehen wollen. So wie ich ausgesehen haben muss, haben sie mich direkt zur Ärztin durchgewinkt. Fast Track. Sie stellt mir die üblichen Standardfragen. Welche Symptome und wie lange schon? Wie ist die aktuelle Medikation? Welche Nebenwirkungen? Bezüglich meiner Suizidgedanken schweige ich. Und antworte auch nicht auf mehrmaliges Nachfragen. Xiaoxi sitzt neben mir, zittert und Tränen laufen in Strömen über ihre Wangen. Sie hat panische Angst um mich.

Und wieder ist es meine großartige Frau, die mich rettet. Weil ich jetzt gar nicht mehr still sitzen kann, laufe ich auch während des Arztgesprächs wie ein Getriebener im Zimmer auf und ab.

Frau hält ein Schild mit der Aufschrift Er Lügt!

In einem unachtsamen Moment von mir fasst Xiaoxi ihren ganzen Mut zusammen, kritzelt ein »Er lügt!!! Er hat Suizidgedanken!« auf ein Stück Papier, schiebt es der Ärztin über den Tisch. Die Ärztin gibt ihr ein Zeichen, dass sie den Hinweis verstanden hat.

Ich wollte ja unbedingt, dass sie nichts sagt. Hat sie auch nicht, aber geschrieben! Heute bin ich dankbar. Es war die absolut richtige Entscheidung meiner Frau. Ich konnte mir selbst nicht mehr vertrauen. Sie hat mir von diesem Zettel erst erzählt, als ich dieses Buch geschrieben habe.

Wir hatten anfangs noch gehofft, dass ich auf der offenen Depressionsstation aufgenommen werden kann. Da, wo mir schon in der ersten Episode so gut geholfen werden konnte. Fehlanzeige, Wartezeit mindestens sechs Wochen. Herrgott, ich halte keine weiteren sechs Stunden mehr aus!

Die Ärztin schlägt vor, mich auf der Stelle auf die geschlossene Station aufzunehmen.

»Es ist besser so für Sie, Herr Reinbacher«, sagt sie eindringlich.

»Sie benötigen dringend Hilfe. Diese sollten Sie hier und jetzt erhalten, nicht erst morgen«, spricht sie langsam und deutlich.

Eine lange Diskussion zwischen mir, Xiaoxi und der Ärztin beginnt. Ich möchte nicht auf die Geschlossene, wer will da schon freiwillig hin? Xiaoxi gibt nicht nach – also gebe ich nach, willige ein. Ich werde es für Nik machen. Es ist nicht mehr möglich, zu Hause zu bleiben.

Aus heutiger Sicht habe ich viel zu lange gewartet, ich hätte schon zwei, drei Wochen eher auf Station aufgenommen werden müssen. Ich wollte die Wahrheit nicht akzeptieren, dass es erneut begonnen hat. Zumal unser Leben gerade wieder in geordneten Bahnen zu verlaufen schien.

Dieser Abschied ist hart.

Ein Pfleger macht einen Covid-Abstrich von mir. Ich muss warten. Er sagt, es dauert etwa zehn Minuten, dann haben wir ein Ergebnis.

»Ich bringe Sie dann direkt in den dritten Stock, auf die geschlossene Station.«

»Aber ich habe gar keine Sachen dabei, nicht einmal ein T-Shirt zum Schlafen.«

»Egal, das kann Ihre Frau später vor der Schleuse abgeben. Es ist Zeit, sich zu verabschieden.«

Frau und Mann arm in arm beim Verabschieden

Der Abschied zerreißt mir das Herz. Ich denke zu diesem Zeitpunkt, dass eine geschlossene Station auch absolutes Besuchsverbot bedeutet. Ich werde ab jetzt komplett auf mich selbst gestellt sein. Xiaoxi und ich liegen uns in den Armen, weinen viel und lange. Ich weine so lange, bis keine Tränen mehr da sind. Ich verspreche ihr, dass ich kämpfen werde, wenn schon nicht für mich, dann für sie und Nik. Sie weiß, dass ich keine Kraft mehr habe, um zu kämpfen. Dass ich mich in dem Moment fast schon aufgegeben habe.

Vor der ersten Episode war ich gut in Schuss, aber jetzt sind die Vorzeichen schlecht. Ich bin ausgelaugt, ich habe meine ganze Energie in den ersten Heilungsversuch gesteckt. Zum Abschied sagt mir Xiaoxi eindringlich, dass ich mich jetzt nur um mich kümmern soll und verspricht mir, dass sie alles andere managen wird. Alles. Was für eine tolle Frau!

Nach nur sechs Monaten schon wieder in der Psychiatrie, diesmal in der geschlossenen Station. Selbst eingewiesen – damit ich mir nichts antue. Das muss ich erst einmal verarbeiten. Ich schlucke. Wie tief kann es mit mir noch bergab gehen?

Mein Job ist mir in dieser Situation dermaßen scheißegal. Wie viel oder wie wenig Geld ich auf dem Konto habe, auch. Es stellt sich die Frage, ob ich mich jemals wieder erholen werde. Die fundamentalen Fragen des Lebens. Alles andere ist Pillepalle.

Ende der Leseprobe

»Nach Grau kommt Himmelblau« ein Mut-Macher Buch, das zeigt: Depression ist besiegbar!

hr1 am Vormittag, 7.11.2023